"Wir sind heute ein Land, das viel mehr ist als Ost oder West"

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 21. März 2024

Wo stehen wir als Land im doppelten Jubiläumsjahr von 75 Jahren Grundgesetz und 35 Jahren Friedlicher Revolution? Bundespräsident Steinmeier hat am 21. März bei "Leipzig liest" während der Leipziger Buchmesse eine Rede über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Lage unseres vereinten Landes gehalten: "In der heutigen Debatte sind ostdeutsche Stimmen selbstbewusst; nicht nur in eigener Sache, sondern sie urteilen maßgeblich mit darüber, was ganz Deutschland ausmacht und wohin sich unser Land als Ganzes  entwickeln soll“, sagte er in der Alten Börse.

Die Erinnerungen an das Land, das meine Geburt beurkundet hat, sind blass. Die DDR lag 1986 in ihren letzten Zügen, aber davon wusste ich nichts in meinem Kinderbett. […] Ich war vier, als es endlich hieß ‚Deutschland einig Vaterland‘.

Viele von Ihnen kennen diese Zeilen sicher. Sie stammen aus dem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe, die heute hier bei uns ist. In Ihrem Roman, liebe Frau Rabe, legt die Hauptfigur Stine Stück für Stück ihre Geschichte und die ihrer Familie frei, eine schmerzhafte Geschichte über mehrere Generationen hinweg; sie spürt den Versehrungen nach, die zwei deutsche Diktaturen und Gewalt, auch in der eigenen Familie, hinterlassen haben. Wo kommen wir her? Es ist diese Frage, die Stine in Ihrem Roman umtreibt, der so furios wie schonungslos erzählt ist. Welche erzählerische Kraft entfaltet sich da. Eine Kraft, der man in vielen neueren Romanen von Schriftstellerinnen und Autoren begegnet, die aus dem Osten unseres Landes kommen. Eine Kraft, die gerade hier in Leipzig bei der Buchmesse zu spüren ist.

Es ist mir eine besondere Freude und wirklich auch ein Herzensanliegen, heute hier in Leipzig zu sein! Seien Sie uns alle herzlich willkommen hier in der Alten Börse! Und ich freue mich ganz besonders, Sie, liebe Anne Rabe, und Sie, lieber Ingo Schulze, heute begrüßen zu können. Sie werden später hier auf dem Podium zusammen mit Marcel Beyer diskutieren, den ich ebenfalls sehr herzlich begrüßen darf. Schön, dass wir Sie, lieber Peter Müller, dafür als Moderator gewinnen konnten. Drei starke Stimmen der deutschen Literatur, das darf ich Ihnen versprechen, drei sehr verschiedene Lebensgeschichten: Ich bin so neugierig auf dieses Gespräch gleich wie Sie.

In den Tagen der Buchmesse ist Leipzig geprägt von einem ganz besonderen Geist. Leipzig, das war immer eine weltoffene Universitäts- und Bürgerstadt. Eine Stadt, die von Austausch lebte und durch den Handel blühte; eine Stadt mit einer stolzen kulturellen Tradition – ich denke natürlich an Bach, natürlich an den Thomanerchor, an das Gewandhausorchester, an die Kunsthochschule. Aber ich denke eben auch an das Leipzig der Demokratisierung des Bürgergeistes, an die Stadt des 1848ers Robert Blum, den klugen Revolutionär, der die Freiheit durch Vernunft erringen wollte. Ich freue mich, dass jetzt zum ersten Mal der Robert-Blum-Preis der Stadt Leipzig verliehen wird. Und ich freue mich darüber, dass die moldauische Staatspräsidentin Maja Sandu die erste Preisträgerin ist. Dieser Preis ist ein Ausdruck der tiefen Wurzeln, die demokratischer Mut in dieser Stadt bis heute hat.

Leipzig, das ist seit Jahrhunderten auch eine Stadt des Buches und der Literatur. Hier hatten große Verlage und bedeutende Buchhandlungen ihren Sitz, hier gingen herausragende Typographen, Setzer, Buchgestalter, Drucker ihrer Kunst nach. Einer Kunst, ohne die die Entwicklung des Buches in unserem Land nicht denkbar gewesen wäre. Und auch die Leipziger Buchmesse blickt auf eine lange Tradition zurück. Im wiedervereinten Deutschland strahlt sie weit über die Grenzen unseres Landes hinaus, in alle Himmelsrichtungen. Die Zukunft dieses ganz besonderen Ortes der Debatte hat überragende Bedeutung für unser ganzes Land, ich würde sagen: für Europa. Ich habe es heute selbst erlebt. Hier treffen sich nicht nur deutschsprachige Verlage und Autoren: Die Buchmesse ist auch ein einzigartiges Schaufenster und ein wunderbarer Begegnungsort. Natürlich – Gastland – mit der flämischen und niederländischen Literatur, aber traditionell, gerade hier in Leipzig, auch ein Begegnungsort mit Literatur aus Mittel- und Osteuropa. Es ist, wem sage ich das in diesem Saal, ein Festival des Lesens, und das wird in der ganzen Stadt gefeiert, das fasziniert viele, und ganz besonders auch mich.

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Verehrte Frau, wir haben Ihre Mahnung gehört, und ich kann Ihnen versichern …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Darf ich den Vorschlag machen – Sie haben Ihre Botschaft hinterlassen: Wir sind nicht einer Meinung, aber wir haben Sie gehört.

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Wir haben es verstanden, wir haben es verstanden …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Wir haben es verstanden. Ich sage Ihnen nur: Ohne den 7. Oktober hätte es diesen Krieg nicht gegeben.

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Ich bitte um Nachsicht. Das ist etwas, was uns im Augenblick in fast allen Veranstaltungen begegnet. Wir leben in einer Demokratie. Wir sind in der Lage, das auszuhalten, und wir kommen zu den Themen zurück, die …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Ich weiß nicht, ob Sie es noch in Erinnerung haben, aber ich hatte geendet beim Fest des Lesens. Ich hatte zuletzt gesprochen über die Kraft der Literatur, die hier in Leipzig und ganz besonders auf der Buchmesse spürbar ist. Eine Kraft …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Noch jemand, der eine Botschaft loswerden möchte? Sonst würde ich in der Tat versuchen zu meinem Text zurückkehren. Also: Wir waren beim Fest des Lesens, wir waren bei der Kraft der Literatur, bei der Kraft der Literatur, die dann natürlich erst sichtbar …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Zu den Menschen, die einfache Erklärung für die Komplexität der Welt haben, zu denen komme ich nachher noch. Aber ich befürchte, die Botschaften, die wir gerade gehört haben, gehören auch in diese Kategorie.

Noch mal: Zur Kraft der Literatur, die erst dann wirklich zum Leuchten kommt, wenn ein Buch, wem sage ich das, Leserinnen und …

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Ich kann die Frage gern noch mal stellen: Ob noch jemand da ist, der Botschaften zum Nahen Osten abgeben will? Ich finde das nicht lächerlich. Das ist ja ein ernstes Thema, über das wir in diesem Lande ja nicht nur während der Buchmesse diskutieren. Ich verstehe auch, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt. Nur es gibt eben keine einfache Sichtweise auf dieses Thema. Und es lässt sich auch nicht am Rande und mit Unterschriftenlisten erledigen. Ich hoffe sehr, und ich vermute gemeinsam mit Ihnen, dass die jetzt aktuell auf Hochtouren laufenden Gespräche um die Freilassung von Geiseln Erfolg haben und dass eine solche Vereinbarung, so sie denn zustande kommt, begleitet wird durch eine Feuerpause.

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Ja, Sie haben offensichtlich keine andere, als Israel ins Meer zu treiben: Das ist nicht unsere Antwort.

[Zwischenruf einer Aktivistin]

Ich fang mal anders an: Ich habe über Bücher geredet, aber zu den wirklich großen Intellektuellen, die die Stadt Leipzig hatte, gehört der Romanist Werner Krauss. Der hat einmal gesagt, Literatur sei die „Innenseite der Weltgeschichte“. Es ist die Literatur, die uns in eine andere Zeit entführen kann; die etwas freilegen, die etwas zur Sprache und zum Schwingen bringen kann, was sich anders nicht ausdrücken lässt oder vielleicht noch nicht besprechen lässt. Und Literatur kann Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen.

Genau hier liegt, finde ich, die Stärke der neuen Generation von ostdeutschen Schriftstellerinnen und Autoren. Genau das gelingt ihnen: Widersprüche aufzuzeigen und sie auszuhalten. Zur Zeit des Mauerfalls waren sie, die Jungen, entweder noch Kinder oder noch gar nicht geboren. Und zu dieser neuen Generation gehören Sie, Anne Rabe, zu ihr gehören auch Manja Präkels, Lukas Rietzschel, Julia Schoch, Matthias Jügler, viele andere mehr, ich kann sie gar nicht alle nennen. Dazu kommen Autoren, die autobiographische Bücher schreiben. Oft Bücher voller Härte und Wut. Sie alle führen Grabungen durch. Grabungen in der jüngeren Geschichte, in der Geschichte der DDR, in den Wirren und im Schmerz des Umbruchs der 1990er Jahren und der Zeit danach. Wichtig sei für ihn, so hat Lukas Rietzschel einmal gesagt, wie wir mit dem Erlebten und unserer eigenen Vergangenheit umgehen. Da wurden Erfahrungen gemacht, die wertvoll sein können für unsere Gegenwart. Und das muss man aufnehmen. Das sagt er ohne Schaum vor dem Mund, nicht rechthaberisch, und doch bestimmt. Und das ist ein Beispiel für viele andere junge Autoren.

Hier aus dem Osten unseres Landes erklingt eine deutlich vernehmbare Stimme. Eine Stimme, die vielfältig und in sich wiederum vielstimmig ist. Eine Stimme, die neu und anders erzählt.

Und diese Stimme ist eine Bereicherung für uns alle. Ich erinnere mich gut. Vor fünf Jahren, als wir den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution gefeiert haben, da ging es darum, den Geschichten aus dem Osten eine größere Bedeutung zu geben, eben weil sie Teil unserer gemeinsamen Geschichte sind oder, damals haben wir gesagt, es mindestens werden müssen. Heute sind wir ein gutes Stück weiter. Die ostdeutschen Stimmen sind nicht nur da, sondern sie werden gehört, gelesen, ihre Bücher stehen auf den Bestsellerlisten, sie prägen zu einem guten Teil die Debatte in Deutschland über Deutschland. Und es sind längst nicht nur individuelle Lebensbilder und Erfahrungen. Es sind Impulse, Kontroversen, Reflexionen, die uns gemeinsam weiterbringen können. Ich glaube, darin liegt eine Stärke unserer Gegenwart. Aus dieser neuen Selbstverortung der jüngeren Generation, aus dieser Selbstvergewisserung können wir alle auch neue Kraft schöpfen.

In diesem Jahr 2024 schauen wir ganz besonders zurück auf unsere jüngere Geschichte und auf die Erfahrungen, die sie für die Gegenwart bereithält. Ein Jahr, in dem wir uns daran erinnern, wie unser Grundgesetz vor 75 Jahren entstanden ist. Ein Jahr auch, in dem wir zurückblicken auf das, was vor 35 Jahren hier in Leipzig und in vielen anderen Städten der DDR geschah.

Hier in Leipzig ist die Erinnerung an die Friedliche Revolution, an den so entscheidenden 9. Oktober 1989, so lebendig wie kaum irgendwo anders. Damals, im Oktober 1989, hätte es trotzdem wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass an jenem Montagabend 70.000 Demonstranten hier den Innenstadtring umrunden würden – zwei Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR mit brutalen Polizeieinsätzen, und wenige Wochen nach dem Massaker in Peking. Ich habe mir erzählen lassen, dass manche vor Freude und ungläubigem Staunen gleich noch eine zweite Runde um den Innenstadtring gedreht haben. Es war dieser Mut, diese Kraft der Menschen, die die Mauer zum Einsturz brachten. Denn sie ist ja nicht gefallen, wie das heute im Volksmund so gerne heißt. Den Mutigen von damals verdanken wir, dass wir seit fast 34 Jahren wiedervereint sind. Wir können nicht dankbar genug dafür sein. Und manchmal, manchmal wünschte ich mir ein wenig von der Aufbruchstimmung von damals, von diesem Zusammenhalt, von diesem Mut. Ich wünsche mir das insbesondere, wenn ich heute in unserem Land unterwegs bin. Und gleichzeitig bin ich mir ganz sicher: All das steckt noch drin in unserem Land. All das steckt noch drin in seinen Menschen.

Seit zwei Jahren verlege ich immer wieder meinen Amtssitz für drei Tage aus der Hauptstadt hinaus, in kleinere Orte, die sonst nicht unbedingt im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen. Orte wie Altenburg und Quedlinburg, Rottweil und Neustrelitz, Freiberg und Völklingen, Senftenberg und Eckernförde, Meiningen und zuletzt Espelkamp.

Ich sehe bei diesen Reisen ein Land, in dem die Menschen anpacken, sich engagieren, sich nicht entmutigen lassen von den enormen Aufgaben, vor denen sie, vor denen wir alle stehen.

Ich sehe aber auch ein Land, in dem bei vielen Menschen die Unsicherheit wächst, die Erschöpfung durch Dauerkrisen zunimmt und auch die Sehnsucht nach scheinbar einfachen Lösungen stärker geworden ist.

Ich sehe ein Land, in dem aufgebrachte Landwirte und Spediteure mit Traktoren und Lastwagen Straßen blockieren. Ein Land, in dem öffentliche Debatten schnell unversöhnlich und schrill werden und Hass und Hetze viele Debatten, gerade im Netz, vergiften. Ich sehe ein Land, in dem politische Veranstaltungen blockiert, Politikerinnen und Politiker bedroht und angegriffen werden, in dem immer wieder das Gespräch auch verweigert wird.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich sehe eben auch, dass Hunderttausende von Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung auf die Straße gehen – nicht gegen Politik, sondern um einzutreten für Freiheit und  Demokratie.

Und ich sehe ein Land, in dem im Osten die grundstürzenden Erfahrungen der Umbruchzeit nachwirken – die Erinnerung daran, an diese Zeit, auch an nachfolgende Generationen weitergegeben wird. Ich sehe, dass das Tempo der Veränderungen nach wie vor unerbittlich ist, und dass deshalb viele fürchten, ihren hart erarbeiteten Wohlstand wieder zu verlieren. Es steht außer Frage, dass die Folgen von Mauerfall und Wiedervereinigung vor allem viele Menschen hier im Osten hart getroffen haben. Viele verloren ihre Arbeit, viele mussten umschulen, viele mussten ganz von vorn anfangen. Und vor allen Dingen, viele Junge gingen weg: in den Westen. In manchen Regionen fehlt eine ganze Generation.

Im Westen dachten hingegen viele, mit der Wiedervereinigung würde sich gar nichts ändern und waren vermutlich auch zu sicher, dass unsere Demokratie unangefochten bleibt und auf ewig garantiert ist.

Ich treffe aber auch viele Menschen, die stolz sind, auf das, was sie erreicht haben, und das, was uns gemeinsam gelungen ist. Menschen, die offen sind für Gespräche und Debatten, auch wenn sie beileibe nicht einer Meinung sind. Das habe ich bei meinen Reisen oft erlebt: am runden Tisch in Senftenberg, der „Kaffeetafel kontrovers“, oder beim großen, offenen Stadtgespräch vor einigen Wochen mit über hundert Leuten in Meiningen.

Es hat sich etwas verändert in der Art, wie in Ostdeutschland über soziale Lagen und politische Ansprüche gesprochen wird. In der alten Ost–West–Debatte hieß es, ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger verdienten mehr Anerkennung. Darin liegt natürlich etwas Richtiges: Dass nämlich jeder Mensch in unserem Land das gleiche Recht auf Respekt hat. Aber es lag immer auch etwas Falsches in dieser Debatte, fand ich: Dass nämlich Respekt etwas ist, das eine höhere Autorität aus dem Westen geradezu gönnerhaft zur Verfügung stellt. In der heutigen Debatte sind ostdeutsche Stimmen selbstbewusst nicht nur in eigener Sache, sondern sie urteilen maßgeblich mit darüber, was ganz Deutschland ausmacht und wohin sich unser Land als Ganzes  entwickeln soll. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, auch und gerade dort, wo wir streiten, wo wir ringen. Denn Demokratie findet nur Gestalt im Ringen um den richtigen Weg.

Ja, es gibt gerade in Zeiten der Veränderung immer auch das Bedürfnis, festzuhalten an dem, was vertraut ist oder vertraut scheint. Aber ich sehe auch, dass Menschen längst aufgebrochen sind in die Zukunft, und zwar im Osten wie im Westen. Und wenn wir von Zukunft sprechen, dann geht es mit Blick auf das Klima natürlich um eine postfossile Zukunft. Ich staune immer wieder darüber, dass überall in den Städten, die ich bei den Ortszeiten besuche, die Menschen bei diesem großen, notwendigen Umbau die Chance nutzen, Bewährtes mit Neuem, Tradition mit Moderne zu verbinden.

In der Lausitz zum Beispiel, wo die Braunkohle das Leben der Menschen geprägt hat, wird heute und in den nächsten Jahren neue Technologie entwickelt für die Energiewende. Und Freiberg, seit Jahrhunderten eine Stadt des Bergbaus und der Verhüttung, ist auf dem Weg, ein moderner Industriestandort zu werden. In Zwickau, der Wiege des sächsischen Automobilbaus, wo bis 1991 der Trabi produziert wurde, steht heute das erste Werk eines deutschen Automobilkonzerns, in dem nur vollelektrische Fahrzeuge gebaut werden. Oder Zeiss in Jena, Halbleiterfertigung rund um Dresden, Glasfasertechnologie aus Thüringen – an Beispielen herrscht kein Mangel. Trotzdem: Es bleibt viel zu tun. Und es bleibt viel zu tun vielleicht gerade im ländlichen Raum.

Wir sind nicht so weit, wie wir sein könnten, aber wir sind weiter, als wir gelegentlich denken: So hat es der Staatsminister an anderer Stelle ungefähr, glaube ich jedenfalls, formuliert. Und ich finde, all das kann uns Zuversicht geben. Zuversicht nicht nur für den Osten, sondern Zuversicht für unser ganzes Land.

Warum sage ich das? Weil es mir auf etwas ganz Entscheidendes ankommt: Wir sind heute ein Land, das viel mehr ist als Ost oder West. Und um sich das klar zu machen, mag manchmal der Blick von außen etwas helfen: Das heutige Ost-West-Gefälle verblasst neben der Kluft zwischen dem armen Norden und dem reichen Süden in England, ganz zu schweigen von der zwischen Nord- und Süditalien, so schreibt der Historiker Frank Trentmann, dessen neues Buch ich gerade auf der Buchmesse gesehen habe. Und ich weiß, auch Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sind so verschieden wie Schleswig-Holstein und Bayern. Und das genau macht die Vielfalt unseres Landes aus.

Die Frage, inwieweit die innere Einheit zwischen Ost und West vollzogen ist, ist heute doch eigentlich, 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution, nicht mehr die allein entscheidende. In einer Gesellschaft, die so vielfältig ist wie die unsere, wird es immer unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Resonanzräume geben, je nachdem, wo man lebt, wo man aufgewachsen ist. Das gilt für Ost und West, das gilt für eingewandert oder hier geboren, das gilt für jung oder alt, und das gilt erst recht für Stadt oder Land. Ich fand es spannend zu sehen, dass letztes Jahr zwei ganz unterschiedliche Sachbücher die Bestsellerlisten gestürmt haben. Das eine: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, das andere: „Ein Hof und elf Geschwister“. Ihre Leserschaft, die Leserschaft dieser beiden Bücher, so vermute ich, könnte unterschiedlicher kaum sein. Wahrscheinlich gibt es wenige Bücherregale im ganzen Land, in denen beide Bücher stehen, geschweige denn nebeneinander stehen Und beide haben Erfolg, weil sie vermutlich ganz unterschiedliche Erfahrungen aufgreifen, in denen Menschen sich auf ganz unterschiedliche Weise wiederfinden. Und das ist nicht schlecht. Das ist erst mal gut.

Nur eines darf nicht passieren: Dass diese unterschiedlichen Erfahrungswelten zu isolierten Rückzugsorten werden, um die herum Mauern hochgezogen werden. Unsere Gesellschaft braucht, davon bin ich überzeugt, Neugier statt Selbstbespiegelung, Offenheit statt Rückzug, Vertrauen statt Misstrauen, Vorschläge statt Vorwürfe. Das sage ich, weil ich davon überzeugt bin: Politische Kraft, die wir jetzt in diesen Zeiten der Herausforderungen brauchen, haben wir nur als Gemeinschaft und nicht, wenn wir uns in erster Linie als Opfer von Unterschieden sehen. Das kann nicht sein. Was wir brauchen, das ist in der Tat Tatkraft, um gemeinsam – Ost und West, Nord und Süd – die großen Herausforderungen anzupacken, vor denen wir stehen. Was wir brauchen, ist Vertrauen in uns selbst, und was wir brauchen, ist eine gemeinsame Erzählung unserer Demokratie. Wir sind ein starkes Land, das auch in der Vergangenheit Krisen gemeistert hat: mit Tatkraft und Ideen, das wissen wir! Vertrauen wir in uns, dass uns das auch in Zukunft weiter gelingen wird.

Wenn wir in diesem Jahr auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken, dann können wir auf vieles, finde ich, durchaus, trotz der aktuellen Schwierigkeiten mit Selbstbewusstsein schauen. Vieles in unserer Demokratie ist geglückt. Aber natürlich, gelassen zurücklehnen, das können wir trotzdem nicht in diesem doppelten Jubiläumsjahr. Wir leben in einer Zeit, in der unsere Demokratie von außen und im Inneren stärker bedroht ist als je zuvor; in der auch in unserem Land Kräfte erstarken, die die Demokratie nicht nur in Frage stellen, sondern sie angreifen, ihre Institutionen verachten, ihre Repräsentanten – das können Sie in den Kommentarspalten der Instagram-Seiten lesen – als „Abschaum“ beschimpfen.

Deshalb ist dieses doppelte Jubiläumsjahr – 1949, 1989 – ein Jahr der Freude, aber vor allen Dingen auch ein Jahr der Bewährung. Unsere Demokratie zu schützen, zu stärken, sie wehrhafter zu machen, das ist genau die Bewährung, vor der wir in diesen Zeiten stehen! Und deshalb müssen wir alles stärken, was unser Land zusammenbringt, was wir gemeinsam haben, was uns verbindet.

Und dazu gehört aus meiner Sicht – ganz ohne Zweifel – unsere Verfassung, unser Grundgesetz, das in wenigen Wochen seinen 75. Geburtstag hat. Ich beobachte, lassen Sie mich das hier so ganz offen sagen, ein wenig mit Sorge, dass gerade viele Ostdeutsche das Gefühl haben, dass das nicht ihr Jubiläum ist. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt keine staatliche Erwartung, die Verfassung zu feiern. Das ist allenfalls Pflicht für den Bundespräsidenten, aber für keinen Menschen, der hier lebt. Darum geht es nicht.

Mir geht es eher um die Frage, ob wir unsere Verfassung wirklich als gemeinsame Errungenschaft betrachten können. Die ersten vierzig Jahre war sie ja in der Tat nur in einem Teil unseres Landes gültig, aber inzwischen ist sie seit immerhin 34 Jahren unser gemeinsames Fundament. Und mehr noch, können nicht auch die ersten vierzig Jahre den Ostdeutschen dasselbe bedeuten, von denen sich viele nach genau den Freiheiten und Werten sehnten, die das Grundgesetz formuliert? Meinungs-, Versammlungs-, Pressefreiheit, die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, der Schutz der Menschenwürde: Das sind die Grundrechte, die unsere Verfassung garantiert. Die vielen Frauen und Männer, die damals in der DDR für diese Rechte, für diese Freiheiten kämpften, sie alle haben diese Erfahrung mit eingebracht in unsere Demokratie von heute.

Ich wünsche mir jedenfalls, dass wir dieses doppelte Jubiläum gemeinsam feiern: Im klaren Bewusstsein, dass erst 1989 das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für alle Deutschen eingelöst worden ist; aber mit ebenso klarem Blick, dass wir zu jeder Zeit, gerade auch heute wieder, gefragt sind, die Versprechen des Grundgesetzes neu einzulösen. Das Grundgesetz ist längst kein „Bonner“ mehr. Es ist die Grundlage und der Garant für das friedliche Zusammenleben all der verschiedenen Menschen in unserem ganzen Land. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes ist ein kostbarer gemeinsamer Schatz. Hüten und beschützen wir ihn gemeinsam!

Wir wollen freie selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln, hieß es im Gründungsaufruf des Neuen Forums im Herbst 1989. Auch dieser Satz ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte geworden. Er hat auch heute nichts von seiner Kraft verloren. Wir schreiben ihn fort. Freie und selbstbewusste Menschen, die gemeinschaftsbewusst handeln: Das ist doch genau das was Demokratie gerade heute braucht. Sie braucht den Schulterschluss aller Demokratinnen und Demokraten, die in diesem Land leben. Ganz so, wie es die Millionen vorgemacht haben, die in den letzten Monaten auf der Straße waren. Mich hat es jedenfalls sehr stolz und froh gemacht, dass sich die demokratische Mitte dieses Landes so kraftvoll gezeigt hat. Gerade auch in den vielen kleineren Städten, wo es oft Mut kostet, sich offen zu bekennen. Vergessen wir trotz aller Schwierigkeiten – auch mit dem Blick auf Umfragen – nicht: Nicht die Extremisten, sondern die Demokratinnen und Demokraten sind die überwältigende Mehrheit in unserem Land. Und diese Mehrheit, diese breite demokratische Mitte unserer Gesellschaft, die lässt, und darüber freue ich mich, nicht länger zu, dass Extremisten allein den Ton setzen und die Themen der medialen Debatte dominieren. Das ist gut.

Und diese Mehrheit kann nicht nur demonstrieren, sie kann auch entscheiden. Dann nämlich, wenn sie zur Wahl geht und für die Demokratie, für ein friedliches Zusammenleben, für die freiheitliche Ordnung und gegen Menschenfeindlichkeit und Extremismus stimmt. Wenn sie also ein starkes Bekenntnis ablegt zu unserer Demokratie.

Ein Bekenntnis, wenn Sie erlauben, wie es hier in Leipzig während der Buchmesse, diesem wirklich wichtigen Ort der Debatte für unser ganzes Land, diesem wichtigen Ort der Begegnung und des Austauschs, ein Bekenntnis, wie es hier überall zu spüren und zu erleben ist. Auch hier und heute Abend in der Alten Börse.

Herzlichen Dank fürs Zuhören. Ich freue mich auf das nachfolgende Gespräch.